Ob in Trainings oder Workshops, ob in Coachings oder Gesprächen am Rande von beruflichen Projekten – ich werde immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass sich Menschen “fremd” fühlen in ihrer spezifischen Tätigkeit an sich oder einfach generell in ihrem näheren beruflichen Umfeld. Wie echt kann ich sein und wie sehr muss ich mich “verbiegen”? Unter dieser wichtigen Frage, wenn sie nicht gut beantwortet werden kann, leidet die Zufriedenheit und sehr oft auch die innere Überzeugung, beruflich etwas Ordentliches zu leisten, damit erfolgreich und glücklich sein zu können. Anlass genug, sich damit einmal mehr auseinander zu setzen.
Über Rollen und Individuen
Egal, was wir beruflich tun oder wo wir sind, wir stellen praktisch jederzeit eine Kombination unserer nackten, puren Existenz in Verbindung mit einer Rolle dar. Wir sind Mensch, wir sind Individuum und wir haben zur gleichen Zeit eine berufliche Funktion. Diese ist mit einem (funktionalen) Rollenverständnis, einer Rollenerwartung und einem Rollenverhalten verbunden. Ob Mitarbeiter oder Vorgesetzter, ob Verkäufer oder Einkäufer – es gibt beliebig viele berufliche Rollen und Beschreibungen dazu. Gleichzeitig leben wir in einem Zeitalter, in dem die Individualität einen sehr hohen Stellenwert für unser Befinden eingenommen hat. Sie gehört zu den sogenannten “Megatrends” (siehe www.zukunftsinstitut.de) weltweit. Einer Rolle gerecht zu werden, “funktionieren”, und gleichzeitig ein hohes Maß an persönlicher Individualität durchsetzen, um glücklich zu werden – da prallen Erwartungen aufeinander, die nicht so ganz einfach miteinander abzugleichen sind. Wie viel Rolle kann ich spielen, um immer noch echt zu sein, wie viel Individualität kann ich durchsetzen und dennoch in meiner Rolle für mein Unternehmen, meine berufliche Aufgabe gut zu funktionieren? Eine außerordentlich spannende Frage und was ist der Lohn, darauf eine gute Antwort zu finden?
Ein paar Takte Theorie
Als Authentizität wird allgemein eine kritische Qualität von Wahrnehmungsinhalten, das können unter anderem Gegenstände, Menschen, Ereignisse oder auch das menschliche Handeln sein, die den Gegensatz von Schein und Sein als Möglichkeit zu Täuschung und Fälschung voraussetzt. Als authentisch gilt ein solcher Wahrnehmungsinhalt, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung, der unmittelbare Schein und das eigentliche Sein, in Übereinstimmung befunden werden.
Was erscheint so wichtig am Echtsein?
Den Begriff der Authentizität gibt es schon recht lange (s. Sokrates, Platon, Aristoteles), doch ihr bedeutsameres Gewicht im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung hat sie erst in der neueren Zeit der Romantik erhalten (Charles Taylor, Descartes). Aus der Arbeitspsychologie heute wissen wir, dass Menschen erst mit einem hohen Grad an Authentizität ihre optimale Wirkung auf andere Menschen erreichen. Etwas allgemein formuliert bei einer gelungenen Kombination aus Glaubwürdigkeit als Mensch und Glaubwürdigkeit in ihrer Rolle, die sie gerade einnehmen.
Für viele Funktionen in einem Unternehmen hat die persönliche Glaubwürdigkeit eine außerordentlich große Bedeutung für den Erfolg in dieser Rolle. Denken wir dabei doch einmal an Führungskräfte oder an Verkäufer oder an Experten mit kommunikativen Aufgaben. Wer ließe sich schon gerne führen, von einem Vorgesetzten, dessen Glaubwürdigkeit gering ist? Wer sich beraten von einem Verkäufer, dem man nicht so recht trauen kann? Wer ließe sich von einem Fachexperten überzeugen, bei dem man Zweifel daran hat, ob er auch hinter dem steht, was er gerade präsentiert?
Gerade in kommunikativen Berufen hat die Glaubwürdigkeit, genährt von eben der Authentizität, ein sehr hohes Gewicht. Die Menschen, wir, wollen fühlen, sehen, riechen, ganz einfach wahrnehmen, dass wir glauben können, was wir vorgesetzt bekommen von unseren Gesprächspartnern. Sobald hier Zweifel auftauchen fallen uns Akzeptanz und Respekt schwer. Daher gehört ein hoher Grad an Authentizität bei kommunikativen Berufen quasi ins Profil fast immer dazu.
Als zusätzlicher Aspekt sollte auch hier, abseits von betriebswirtschaftlichem Nutzen, die ganz persönliche Zufriedenheit in einer Rolle Beachtung finden. Wem die Rolle, die man spielt, quasi “auf den Leib geschnitten” ist, der hat fast automatisch auch ein höheres Glücksgefühl, innere und dann auch oft äußere Bestätigung in der Ausübung dieser Rolle(n).
Aus Lehre und Forschung – Die Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman unterscheiden vier Kriterien für das Erleben von Authentizität:
- Bewusstsein: Ein authentischer Mensch kennt seine Stärken und Schwächen ebenso wie seine Gefühle und Motive für bestimmte Verhaltensweisen. Durch diese Selbstreflexion kommt er zusehends in die Lage, sein Handeln bewusst zu erleben und zu beeinflussen.
- Ehrlichkeit: Hierzu gehört der realen Umgebung ins Auge zu blicken und auch unangenehme Rückmeldungen, z.B. per Feedback, zu akzeptieren.
- Konsequenz: Ein authentischer Mensch handelt nach seinen Werten. Werte, hinter denen er von innen heraus steht. Das gilt auch für den Fall, dass er sich dadurch Nachteile einhandelt. Wirkt doch kaum etwas verlogener und unechter auf uns als ein Opportunist.
- Aufrichtigkeit: Authentizität beinhaltet die Bereitschaft, seine negativen Seiten nicht zu verleugnen. Mindestens das Streben nach Erkenntnis darüber ist also angesagt.
Authentischer werden
Wie also können wir an unserer Authentizität, an unserer Echtheit und Glaubwürdigkeit arbeiten? Die Scheidung des Authentischen vom vermeintlich Echten oder sogar Gefälschten kann als spezifisch menschliche Form der Welt- und Selbsterkenntnis gelten. Dafür gibt es einige theoretische Modelle und ganz praktische Hilfen, die uns unterstützen können. Mindestens sei das Johari-Fenster erwähnt, mit dem uns Joe Luft und Harry Ingham ein ganz fabelhaftes Modell in die Hände gedrückt haben, mit dem wir etwas sehr kompliziertes, nämlich die Unterscheidung und die Handhabung von Selbst- und Fremdbild, außerordentlich vereinfacht haben. Authentizität hat, wie wir schon gesehen haben, viel mit Wahrnehmung zu tun. Die Wahrnehmung von uns selbst, pur oder in einer Rolle, und die Wahrnehmung von uns aus der Perspektive anderer. Luft und Ingham zeigen uns über die zunächst statisch erscheinenden vier Persönlichkeitsbereiche (1. Nur mir sichtbar; 2. Mir und anderen sichtbar; 3. Nur anderen sichtbar; 4. Vorhanden, jedoch weder mir noch anderen aktuell sichtbar) klare Wege auf, Licht in die Persönlichkeit und die Authentizität zu bringen. Es geht hier vor allem um eine Vergrößerung des Bereichs “Mir und anderen sichtbar”. Wenn unsere eigene Wahrnehmung von uns selbst mit der Wahrnehmung anderer zum Teil übereinstimmt, dann erreichen wir damit auch einen hohen Grad an Echtheit bei allen Beteiligten, inklusive unserer selbst.
Offener werden, mehr von sich zeigen, das ist die eine Seite, an der wir arbeiten können. Unser Verhalten und die damit verbundene Wirkung auf andere zu reflektieren oder direkt abzufragen, die andere. Ersteres benötigt vor allem Mut, denn sich mehr öffnen, mehr von sich preis zu geben, das bedeutet auch etwas erreichbarer und verletzlicher zu sein.
Reflektion, in sich gehen, benötigt etwas Zeit und Ruhe, was gerade Menschen in Stressberufen oft schwerfällt. Hier gilt es ganz klar, mehr Zeit für sich selbst bewusst einzuplanen und diese als nützliche Zeit für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu sehen. Darüber hinaus hilft uns vor allem das direkte Feedback anderer zu uns. Wer seine Authentizität erhöhen möchte, kommt nicht umhin, sein Umfeld um Feedback zu bitten, was manchem leicht und anderen sehr schwer fallen kann. Doch Feedback – geben wie nehmen – lässt sich erlernen, sofern dieser Vorgang Mühe bereitet oder Menge und Qualität nicht unseren Bedürfnissen entsprechen.
“Was tun?”, sprach Zeus
Das Streben nach Echtheit, nach Individualität sollte, so meine Erfahrung aus beruflichen Arbeiten heraus, nicht zum Dogma werden und stellt auch nicht die Einladung zu ungebremstem Egoismus dar. Wir müssen keineswegs jederzeit jedem unsere innere Meinung verkünden, um als echt wahrgenommen zu werden. Ich halte es da mit einem unserer früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt, der durchaus für seine fast kompromisslose Authentizität bekannt war: “Erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen alles sage, was ich meine. Doch sie dürfen zu recht erwarten, dass ich meine, was ich sage.”
Wer im Beruf Glück und Erfolg zugleich anstrebt, der sollte, falls immer möglich, eine Tätigkeit ergreifen, hinter der er stehen kann, und dies möglichst auf eine Weise, die ihn selbst überzeugt. Tu was du liebst, liebe, was du tust und das mach´mit ganzem Herzen. Wir sprechen, das ist klar, von einem Idealzustand, einem Leitbild. Das Leben wirft uns gelegentlich den einen oder anderen Knüppel zwischen die Beine bei unseren Bestrebungen danach und das ist letztlich auch völlig ok so. Es bringt uns dazu, für unsere Ziele zu kämpfen, unsere Stärken und Schwächen dabei zu erkennen, Erfolge schätzen zu lernen und Rückschläge als Lehrstunden zu begreifen.
Unternehmen mit einem hohen Werteverständnis und einem gelebten Verantwortungsgefühl erlauben ihren Mitarbeitern und Führungskräften nicht nur Authentizität, sie fördern sie sogar. Völlig überein mit den grundsätzlichen Unternehmenszielen Gewinne zu machen und zu wachsen: Wer, in Übereinstimmung mit den Werten des Unternehmens, authentisch sein kann und darf, der fühlt sich deutlich stärker mit seinem Unternehmen gebunden, hat weniger Wechselgedanken und ist nachhaltig leistungsfähiger im Auftrag für sein Unternehmen.
von Karl Heinz A. Lorenz